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Interpret/innen als Auftrageber/innen im 20. Jahrhundert: Voraussetzungen, Positionierungen, Wirkungen
Kurzbeschreibung des Forschungsprojekts
Im 20. Jahrhundert ist im Bereich der klassischen Musik ein neues Phänomen zu beobachten: Interpret/innen, die Komponist/innen beauftragen und finanzieren, für sie zu schreiben, und die dadurch oftmals völlig neue Repertoires für ihre Instrumente schaffen. Das hier vorgestellte Forschungsprojekt befasst sich mit Fragen zu den Hintergründen und individuellen Motivationen, dem künstlerischen Austausch zwischen den Kooperationspartner/innen sowie der Nachwirkung des musikalischen Ergebnisses. Im Mittelpunkt stehen ausgewählte Künstler/innen, die durch die Vergabe von Aufträgen das Repertoire und die Ästhetik ihrer Instrumente wesentlich prägten: Paul Wittgenstein (1887–1961) etablierte nach dem Verlust seines rechten Arms im Ersten Weltkrieg Klavierspiel nur mit der linken Hand in einer völlig neuen Dimension; Marian Anderson (1897–1993) regte eine blühende Produktion von Spirituals für ihre Stimme und den klassischen Konzertrahmen an; Sylvia Marlowe (1908–1981) und Antoinette Vischer (1909–1973) bewegten Komponist/innen dazu, für das Cembalo als modernes Instrument zu schreiben; der „King of Swing“ Benny Goodman (1909–1986) initiierte, neben seinen Bemühungen, sich als klassischer Künstler zu etablieren, einen wichtigen Teil des Solorepertoires des 20. Jahrhunderts für Klarinette.
Ausgehend von vielfältigen Primärquellen (Korrespondenzen, Verträge, handschriftliche und gedruckte Noten, Tonaufnahmen, Presseberichte usw.) und unter Rückgriff auf musikwissenschaftliche, historische und soziologische Methoden werden drei Hauptebenen untersucht:
- strukturelle und individuelle Voraussetzungen – die kulturellen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der Auftragsvergabe durch Interpret/innen;
- Selbstpositionierungen der beteiligten Personen in Interaktion mit anderen – das sich in Rollenzuweisungen, Vertragsbedingungen und Besitzansprüchen widerspiegeln kann;
- Auswirkungen – die Aufführungs- und Rezeptionsgeschichte der Kompositionen in den Laufbahnen der jeweiligen Interpret/innen sowie im allgemeinen Repertoire.
Durch das Projekt wird das Phänomen der Auftraggeberschaft durch Interpret/innen erstmals grundlegend und systematisch erfasst. Indem ihre proaktive Rolle in der Entstehung neuer Musik ins Zentrum gestellt wird – als diejenigen, die sie initiieren, finanzieren, ermöglichen –, wird ein differenziertes Verständnis der Dynamiken und Machtstrukturen in der Sphäre der sogenannten klassischen Musik generiert. Dies rückt den Fokus weg vom Paradigma des (männlichen) schöpferischen Genies und ermöglicht einen offeneren und inklusiveren Blick auf eine Diversität, die nicht nur durch die untersuchten Fallbeispiele selbst, sondern auch durch die sie umgebenden Personen und Lebenswelten repräsentiert wird. Daraus ergeben sich Anknüpfungspunkte für verschiedene interdisziplinäre Forschungsfelder, wie den Cultural und Gender Studies. Darüber hinaus trägt diese Arbeit zum Diskurs über Musik als Ergebnis kollaborativen Handelns bei, der in den letzten Jahren an Dynamik gewonnen hat. So leistet dieses Projekt nicht nur einen innovativen Beitrag zur Musikwissenschaft, sondern kann auch Grundlage für Diskussionen mit verschiedenen anderen Disziplinen sein, insbesondere in der Erforschung der darstellenden Künste sowie in der Kunst- und Kulturgeschichte oder der Literaturwissenschaft.
Zum Anschauen
HIER geht es zum Projekt.
Themenanregungen für VWA und Diplomarbeit
- Fallstudien zu einzelnen Auftragskompositionen, Auftraggeber/innen und Komponist/innen
Einstiegsliteratur
- Elisabeth Reisinger, “More Than One ‘Double Life:’ Artistic Conceptions, Networks, and Negotiations in Benny Goodman’s Commissions to Paul Hindemith and Darius Milhaud,” Journal of the Society for American Music 17/2 (2023), 101–125, https://doi.org/10.1017/S1752196323000044
- Louis K. Epstein, The Creative Labor of Music Patronage in Interwar France, Boydell, 2022
- Colin Lawson und Robin Stowell (Hg.): The Cambridge History of Musical Performance, Cambridge 2012: Kapitel "The Performer and the Composer" (Corey Jamason), S. 105-134
- William Weber, "The Musician as Entrepreneur and Opportunist, 1700-1914", in: The Musician as Entrepreneur 1700-1924. Managers, Charlatans and Idealists, hg. von dems., Cambridge 2004, S. 3-24