Übersetzerische Expertise: eine Arbeitsplatzstudie
Kurzbeschreibung des Forschungsprojekts
Schon seit langem wird darüber diskutiert, was „gute“, „kompetente“ oder „professionelle“ Übersetzerinnen und Übersetzer eigentlich ausmacht. In der Übersetzungswissenschaft besteht die Debatte seit einigen Jahrzehnten, und außerhalb der Übersetzungswissenschaft wohl noch viel länger. Da das Übersetzen eine sehr komplexe Tätigkeit ist, gibt es eine Vielzahl an möglichen Aspekten, die als wichtig empfunden werden können. Mit unserem Projekt „Übersetzerische Expertise: Eine Arbeitsplatzstudie“ haben wir nicht vor, eine Antwort auf die Frage, was nun „gute“ oder „kompetente“ Übersetzerinnen und Übersetzer (auch: Übersetzungs-„Expertinnen oder Experten") sind, zu finden. Stattdessen wollen wir die Frage anders stellen und herausfinden, welche unterschiedlichen Vorstellungen der übersetzerischen Expertise in der Arbeitspraxis herrschen, wie diese Vorstellungen entstanden sind und wie sie wirken – wer etwa als Expertin und Experte anerkannt wird und wer nicht.
Bisher wurde in der empirischen Forschung vor allem experimentell vorgegangen: Man ließ Übersetzerinnen und Übersetzer mit unterschiedlich viel Erfahrung und mit unterschiedlichem Bildungshintergrund dieselben Texte übersetzen, beobachtete, was sie dabei machen und versuchte so, mehr über die unterschiedlichen Vorgänge im Gehirn der Personen herauszufinden. Auf diese Weise konnten tatsächlich einige Unterschiede zwischen erfahrenen und weniger erfahrenen Übersetzerinnen und Übersetzern festgestellt werden. Allerdings zeigt diese Forschung nur einen Teil davon, was es bedeuten kann, „Expertin“ oder „Experte“ zu sein. Zum einen kann in Experimenten das alltägliche oder berufliche Übersetzen nie in seiner gesamten Komplexität simuliert werden. Zum anderen liegt auf diese Weise die Entscheidungsmacht darüber, wer eine Expertin oder ein Experte ist, alleine bei den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.
Wir gehen davon aus, dass Expertise nicht objektiv festgelegt und gemessen werden kann, sondern dass sie vor allem im sozialen Miteinander durch Interaktionen mit anderen Menschen geschaffen wird. Das bedeutet, dass Expertise sehr stark von der jeweiligen Situation abhängt und dass es sehr unterschiedliche Vorstellungen von Expertise geben kann. Deshalb wollen wir mit unserem Forschungsprojekt das Thema von einer anderen Seite beleuchten und uns ansehen, was es in der „echten Welt“ (in unserem Fall an gewöhnlichen Arbeitsplätzen) bedeutet, Expertin oder Experte zu sein. Wir werden Personen, die selbst übersetzen oder mit Übersetzerinnen oder Übersetzern arbeiten, vor Ort an ihren Arbeitsplätzen in Übersetzungsagenturen besuchen, sie für eine Dauer von mehreren Wochen bei ihrer Arbeit beobachten, Interviews und Fokusgruppengespräche führen, sowie schriftliche Dokumente sammeln. Dabei wollen wir herausfinden, was sie sich unter Übersetzungsexpertinnen und -experten vorstellen, welche Bilder von Expertise vorherrschen, wie sie in sozialen Interaktionen geschaffen werden, wie sie implizit in Handlungen sichtbar werden und wie explizit darüber gesprochen wird.
Die Studie wird vom Wissenschaftsfonds (FWF) finanziert.
Zum Anschauen
Themenanregungen für VWA und Diplomarbeit
- Analysen von Online-Inhalten wie Websites und Blogeinträgen von Sprachdienstleistenden (Übersetzer/innen, Dolmetscher/innen, Translationsagenturen, etc.) zu den Themen:
- Wie sehen und beschreiben Translatorinnen und Translatoren ihr Tätigkeitsfeld (u.a. Aufgabenspektrum, Verantwortung, Eignung, Einsatzfelder)?
- Welche Themen kommen hier besonders vor? Z.B. Worauf wird besonders hingewiesen, was wird sichtbar gemacht?
- Inwiefern bzw. wie begründen Translatorinnen und Translatoren ihre Expertise im Rahmen des eigenen Webauftritts?
Einstiegsliteratur
Kaind, Klaus & Kadrić, Mira (eds.) (2016). Berufsziel Übersetzen und Dolmetschen. Grundlagen, Ausbildung, Arbeitsfelder. UTB.
Risku H., Rogl R., & Milošević, J. (2019). Introduction. In H. Risku, R. Rogl, J. Milošević (Eds.), Translation Practice in the Field: Current research on socio-cognitive processes (pp. 1-24). John Benjamins.