Kritischer Umgang mit Wissenschaft am Beispiel von Geschlechterunterschiede
Kurzbeschreibung des Forschungsprojekts
„Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind in der Evolution bedingt. In der Steinzeit, als die Menschen als Jäger und Sammlerinnen lebten, waren sie notwendig.“
Solche und ähnliche Theorien über Geschlechterunterschiede – beispielsweise in Bezug auf Farbvorlieben oder Orientierungsfähigkeit – sind nicht nur im Alltag anzutreffen, sondern auch in wissenschaftlichen Forschungen, die derzeit populär sind.
Die feministische Wissenschaftskritik hinterfragt wissenschaftliche Theorien und Studien evolutionärer und biologischer Geschlechterunterschiede. Sie zeigt, dass Wissenschaft nicht in einem machtfreien Raum stattfindet, sondern im Zusammenhang gesellschaftlicher Ungleichheit zu verstehen ist.
Die Frage, was warum als „Wissen“ und „wissenschaftlich“ gilt, ist umkämpft. Im Projekt "Critical Science Literacy. Warum Wissenschaft nicht einfach wahr ist, was das mit dir zu tun hat und was du daran ändern kannst" wird davon ausgegangen, dass in der gegenwärtigen „Wissensgesellschaft“ wissenschaftliches Wissen eine zentrale Rolle in der Herstellung, aber auch in der Herausforderung gesellschaftlicher Ordnung spielt. Daher kann in einem kritischen Umgang mit wissenschaftlichem Wissen – einer critical science literacy – eine zentrale demokratische Fähigkeit in der Wissensgesellschaft gesehen werden. Insbesondere die Schule ist ein Ort, an dem gelernt werden kann, „wissenschaftliche Tatsachen“ und vermeintliche Wahrheiten kritisch zu hinterfragen und die eigenen Mitgestaltungsmöglichkeiten an gesellschaftlichen Prozessen zu erweitern.
Im Projekt wurde ein innovativer Ansatz einer Critical Science Literacy als demokratische Grundfertigkeit in der Wissenschaftsgesellschaft erarbeitet und mit Perspektiven der feministischen Wissenschaftskritik erweitert. Dabei wurde einerseits eine theoretische Begriffsschärfung und gesellschaftspolitische Verortung von Wissenschaft und Wissenschaftsbildung vorgenommen und andererseits mithilfe von Praxisreflexionen Ansätze zur Vermittlung einer kritischen Wissenschaftskompetenz entwickelt.
In der ersten Projektphase wurden mit Schülerinnen und Schülern der 7. Klassen des GRG 23 in Wien Wissenschaftsverständnisse in der Schule und kritische Zugänge zur Vermittlung eines kritischen Umgangs zu Wissenschaft erarbeitet. Der Fokus lag hierbei bei sozialwissenschaftlichem Wissen über Geschlecht und der Kritik von biologischen Geschlechtertheorien.
Die zweite Phase des Projekts war der Erstellung von Vermittlungskonzepten für verschiedene Altersstufen und didaktischen Materialien zur Förderung einer Critical Science Literacy gewidmet. Die pädagogische Reflexion der Arbeit im GRG 23 ging wurden dabei in die Konzepte und Materialien eingearbeitet.
Themenanregungen für VWA und Diplomarbeit
- Geschlecht – eine Frage der Evolution? Was haben Jäger und Sammler mit uns zu tun? Oftmals hört man, dass Geschlechterunterschiede so sind, weil sie in der Steinzeit notwendig gewesen wären. So heißt es vielfach, Männer hätten einen besseren Orientierungssinn, weil sie diesen zum Jagen gebraucht hätten. Hier lassen sich viele Fragen stellen: Haben nur Männer gejagt? Haben Sammlerinnen und Sammler nicht genauso eine gute Orientierung gebraucht? Hat man nicht alle Stammesmitglieder zur Jagd gebraucht? Und wer sagt, dass die Steinzeit irgendetwas mit der heutigen Gesellschaft zu tun hat. Die Evolutionspsychologie ist ein sehr populäres Feld, das aber von vielen Seiten kritisiert wird.
- Theorien der Objektivität kritisch diskutieren: Was heißt Objektivität? Manchen Theorien zufolge soll und kann Wissenschaft neutral und unparteilich sein. Andere behaupten, dass dies gar nicht möglich ist, weil Wissenschaft immer von einem bestimmten Standpunkt aus betrieben wird. In kritischen Theorien wird argumentiert, dass die Rede von der Objektivität nur verdeckt, mit welchen Interessen Wissenschaft betrieben wird. In dieser Arbeit soll eine kritische Auseinandersetzung mit ausgewählten Theorien der Objektivität erfolgen.
- Wie werden wissenschaftliche Tatsachen gemacht? Wie entsteht eine „wissenschaftliche Tatsache“? Was sind Tatsachen? Wenn man genauer hinschaut, ist das keine so einfache Frage. Viele Theoretikerinnen und Theoretiker haben sich damit beschäftigt und untersucht, wie Tatsachen überhaupt zu solchen gemacht werden. Diese Arbeit könnte sich mit theoretisch oder mit ausgewählten Beispielen damit beschäftigen, wie wissenschaftliche Tatsachen entstehen.
Einstiegsliteratur
- Rosa Costa, Iris Mendel: Im Bann der Jäger und Sammler. In (dies.): TATsächlICH. Feministische Zugänge zu Wissenschaft. Wien 2017.
- Online: www.sparklingscience.at/de/CriticalScienceLiteracy.html
- Nora Ruck: Schönheit als Zeugnis. Evolutionspsychologische Schönheitsforschung und Geschlechterungleichheit. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2014.
- Hilary Rose, Steve Rose (Hg.): Alas, Poor Darwin: Arguments Against Evolutionary Psychology. London: Vintage 2001.
- Sandra Harding: Das Geschlecht des Wissens. Frauen denken Wissenschaft neu. Frankfurt am Main: Campus 1994.
- Lorraine Daston, Peter Galison: Objektivität. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
- Ulrike Felt, Helga Nowotny, Klaus Taschwer: Wissenschaftsforschung. Eine Einführung. Frankfurt am Main/New York: Campus 1995.
- Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981.
- Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv.Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1980